Ich fahre sehr selten Bus, aber das Winterwetter zwingt mich dazu. Zudem muss ich nicht umsteigen, auch wenn die Fahrt eine halbe Stunde geht. Bei der zweiten Haltestelle steigt eine kleine, zierliche Frau in den 70ern (schätze 75) ein und setzt sich mit einem freundlichen Nicken zu mir. Es ist eng. Der Himmel ist wolkenlos und es ist sonnig und wir beide kommen darüber (blauer Himmel, Schneetage) ins Gespräch. Sie sagt, dass sie froh ist, im Moment nicht mit dem Auto zu fahren, aber eigentlich doch lieber gerne Auto fährt, aber es einfach nicht riskieren will, den Führerschein "für immer" wegen eines "winterbedingten Unfalls" loszuwerden. Einige Vorräte hätte sie schon letzte Woche gekauft für daheim.
Sie erwähnt, dass ihr "ihr Führerschein" sehr wichtig wäre und sie so froh wäre, noch selber Auto fahren zu können. Dann erzählt sie mir im Schnelldurchlauf einiges über ihr Leben.
Vor Jahren lebte sie in Montreal und in Ontario mit ihrem verstorbenen Mann. Sie hatten dort ein kleines Geschäft und anfangs arbeitete sie in einem Krankenhaus (Zitat: Die Einwanderer sollen die Jobs übernehmen, die Kanadier nicht arbeiten könnten oder wollten! Sie grinst und sagt: "Wer glaubt, die Kanadier können diese speziellen Jobs nicht tun, die z.B. die Deutschen dort dann machen oder andere Einwanderer, der glaubt auch an den Osterhasen...". Sie glaubte, dass die Kanadier das genauso gut könnten....damals), und fühlte sich sehr wohl unter den meist freundlichen und aufgeschlossenen Kanadiern.
In Kanada traute sich lange nicht, Auto zu fahren, zudem war aber ihre Ehe irgendwann nicht mehr so gut und das Ehepaar beschloss, zurück nach Deutschland zu gehen (eigentlich mehr der Mann), auch weil es noch enge ältere Angehörige dort gab.
Schweren Herzens ging sie aus Kanada weg. Vor allem der alten Dame tat es sehr leid, sie wäre so gerne geblieben. Sie hätte damals vier tolle Stellen angeboten bekommen kurz vor der Rückkehr, aber der Mann wollte ja unbedingt zurück, als ob dann in Deutschland alles besser gehen würde.
Sie erkannte schnell, ohne Führerschein war sie verloren (dort und hier) und machte im relativ hohen Alter die Fahrstunden und bat den Fahrlehrer, sie nur zur Fahrprüfung anzumelden, wenn sie die Prüfung aufs jeden Fall auf das erste Mal schaffen würde, da sie kaum Geld hatte und eine zweite Fahrprüfung unbezahlbar gewesen wäre in der damaligen Situation.. Sie schaffte es und fährt heute noch glücklich damit (bis auf heftige Wintertage). "Wäre ich doch bloss in Kanada geblieben, seufzte sie." Es war soooo schön dort. Trotz der besch.... Ehe fühlte ich mich so wohl mit den herzlichen Kanadiern. Sie hatte so große Sehnsucht nach Kanada.
Ich erzählte ihr, dass ich in den nächsten Tagen in ihr Lieblingsland fliegen werde und sie schwärmte wieder davon und über besonders glückliche Momente dort. Quebec war zauberhaft und unvergeßlich (Anmerkung: Da möchte ich auch mal gerne hin) und in Ontario hätte sie oft zu Fuß von Kanada aus in die USA spazieren gehen können, so nah wohnte sie an der Grenze und machte herrliche Spaziergänge zwischen den beiden Ländern. Und wieder erzählte sie mir über die Herzlichkeit der dortigen Bewohner. In B.C. bzw. Vancouver war sie noch nie und würde gerne mal diese Region besuchen.
Ein Highlight - trotz schlechter Ehe - war eine Fahrt von Kanada nach New Mexico und die Metropolregion Buffalo-Niagara im Staate New York. Sie hatte große Sehnsucht, Kanada wiederzusehen. Ich fragte sie, ob sie nicht doch noch einmal Kanada besuchen möchte. Sie antwortete, dass sie das so gerne machen würde, aber aktuell nicht genug Geld hätte (kleine Rente) und gerade hohe Zahnarztkosten zu begleichen uvm.
Zudem hätte sie in den letzten Jahren eine schlimme Krebserkrankung mit Chemo, Bestrahlungen und allem drum und dran überstanden und sei endlich über dem Berg und darüber war sie so froh und sie meinte, dass sie "alte etwas verrückte Lady" einen Weg finden wird, doch wieder nach Kanada zu reisen. Das wäre ihr allergrößter Wunsch.
Ich riet ihr, sie soll es unbedingt versuchen, für sich selber diesen Wunsch erfüllen. Einmal was Verrücktes tun, und auf andere vernünftige Dinge verzichten oder sie (die vernünftigen Dinge) später machen.
Dann verabschiedete sie sich gut gelaunt: "Sie haben mir den schönsten Tag bereitet und ich bin so froh, dass ich Ihnen begegnet bin und für die schöne Unterhaltung. Ich wünsche Ihnen alles Gute und gute Reise und ganz viel Glück im Leben und Gottes Segen."
Ich bedankte mich gerührt und bewegt (dass sie mich an ihrer Geschichte teilnehmen ließ) und wünschte ihr auch alles Gute und dass sie bald ihre weite Reise antreten wird und ich mich auch sehr gefreut hätte.
Die anderen Fahrgäste im Bus hörten wohl mit und eine blonde ältere Dame vor mir stand auf und grüßte mich freundlich unbekannterweise und lächelte so wie ich.
Die kleine Dame winkte mir beim Aussteigen lächelnd zu und auch von draußen und ich sah sie mit ihrem braunen Kunstpelzmantel und Wollmütze zur S-Bahn-Haltestelle laufen und unter den vielen Menschen verschwinden, von hinten sahen fast alle gleich aus mit der dunklen Winterbekleidung. Ich weiß nicht, wie sie heißt. Sie muss nur einige hundert Meter von mir entfernt wohnen.
Wenn ich an sie denke, muss ich auch lächeln. Sie hatte so eine positive Ausstrahlung und Heiterkeit. In Kanada hatte ich im Bus schon viele solcher Begegnungen. Menschen, die neben einem sitzen, sprachen mich an, als ob wir uns schon ewig kannten und ich hörte deren spannende Geschichten und auch sie verschwanden irgendwann bei einer Haltestelle für immer, aber es blieb immer etwas zurück. Noch nach Jahren erinnere ich mich an sie.
Ich drücke dieser kleinen Dame ganz feste die Daumen!
...Sie hätte trotz manchmal Minus 30 bis 40 Grad in extremen kanadischen Wintern fast nie eine Erkältung gehabt, das wiederholte sie mehrmals, auch von einem Jahrhundertwinter. Es bleiben meist nur die besonders guten Zeiten in Erinnerung.
Hallo lakota, deine "Erinnerungen im Bus" haben mich an aehnliche Begegnungen denken lassen bei denen wildfremde Menschen uns in Auszuegen an ihrer Lebensgeschichte teilhaben liessen. Gerade die Begegnungen mit aelteren Menschen finde ich extrem spannend, denn sie haben so viel zu erzaehlen. So hatten wir z.B. durch Zufall (bzw. mehr oder weniger ueber ihren Hund ; ) eine Ex-Stuntfrau aus dem Hollywood der 30er und 40er Jahre und ihren Mann, einen der erfolgreichsten Jockeys seiner Zeit, kennengelernt. Es war ein so freundliches aelteres Paar, sie haben uns sogar in ihren Trailer mitgenommen und stolz ihre Pokale bzw. Ehrungen gezeigt, auch ein Video mit einer Laudatio von Hollywood Legende Jean Simmons. Martha hatte alle grossen Damen des alten Hollywoods gedoubelt, aber besonders in Erinnerung sind ihr Gregory Peck und eben Jean Simmons geblieben aufgrund ihres feinen Charakters. Es ist wie du schreibst, es bleibt immer etwas zurueck und noch nach Jahren erinnere ich mich gerne an diese Begegnungen und die Geschichten.
Diese überraschenden Begegnungen genieße ich. Sehr schöne Geschichte über das Film-Paar. Danke. Ich hatte in Victoria so viele solcher Begegnungen. Nur einer zog mich fast runter. Er hat nicht mehr aufgehört, über sein trauriges Leben zu berichten. Er hatte einen grünen Hut mit einer langen Feder dran und sah aus wie Kris Kristofferson. Ein hochgewachsener einsamer Mann, der seine drei Kinder und Frau nie wieder sah. Zwei Freundinnen wollten unbedingt mit ihm später reden, als ich von ihm berichtete. So verschieden sind die Antennen.
2006 war ich mit einer Freundin in B.C. unterwegs und da wir oft unterschiedliche Interessen hatten, gingen wir tagsüber alleine los und am frühen Abend trafen wir uns am Inner Harbour und tauschten unsere Geschichten über Begegnungen aus und zeigten uns gegenseitig die Digicam Fotos. Oft war dann die Freundin so neugierig auf den oder die und sagte: Die möchte ich auch gerne kennenlernen und mehr hören. Einmal traf ich am Inner Harbour ein deutsches Brüderpaar. Sie hörten mich mit einer Österreicherin deutsch reden und tippten mir auf die Schulter. Der eine lebte seit 20 Jahren in Deep Cove, etwas introvertierter Mann, der andere war Künstler in meiner Gegend in D, sehr offen und herzlich, er hatte einen großen brauen Hut auf und eine positive Ausstrahlung. Es stellte sich heraus, dass die beiden aus einem Dorf kamen, wo auch meine Jugendliebe (jetzt Kanadier) und dessen Schwester herkamen und beide kannten diese beiden anderen Geschwister und die Familie sehr gut und es gab die tollsten Verbindungen und Geschichten zu B.C. und Deutschland und wir sind alle aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen. Der Künstler hatte seine Bilder bei dem Cousin der Jugendliebe ausgestellt uvm. Auch da lebte einer erfolgreich in Kanada über 20 Jahre und die Schwester noch in diesem Dorf. Habe der Schwester einen Kanadier vorgestellt, mit dem sie dann recht schnell (noch heute) zusammen lebte und die große Liebe gefunden hatte.
Die Reisefreundin traf am Elk Lake mitten im Wald (ganz alleine) einen 81jährigen Deutschen, mit dem sie lange sprach. Er freute sich sehr und bat sie aber, dass sie kein Foto macht, so auch dieser introvertierte Bruder aus Deep Cove. Dieser Deep Cove DeutschKanadier sagte mir, er hätte in 20 Jahren nicht soviel erlebt, wie ich in 20 Tagen. Das sagte er wortwörtlich und ich wunderte mich darüber.
Die Brüder wiederum wollten von mir aber unbedingt ein Bild machen. Oft trafen wir Auswanderer im Regenwald z.B. beim Pilze sammeln und hörten spannende Geschichten. Bei einem Schneesturm im Dezember 2008 fuhr ich von Nanaimo nach Vancouver mit der Fähre und eine rüstige 83jährige fuhr mit und flog weiter nach L.A., wo die Tochter Regie und Drehbücher machte uvm. in Hollywood und drei Enkelkinder auf die Oma warteten, die wegen des Schneesturms nicht die Seaplane nehmen konnte, sondern nur die Fähre wie ich. Auch das Gespräch war so spannend, sie lebte ca. 50 Jahre in Kanada und hatte einen harten deutschen Akzent. Eine kleine - auch zierliche - Frau, die nicht mal den Aufzug nehmen wollte vom Deck 6 ganz runter zum Bus-Deck trotz Knieproblemen. Auf der gleichen Fähre traf ich noch eine Frau aus Nanaimo, deren Mutter Deutsche war. Sie fuhr an Weihnachten nach Saskatchewan und ich saß mit ihr lange am Central Station, bis meine Tochter im Schneetreiben endlich dort eintraf. Gerade als ich ihr meine Adresse geben wollte, kam meine Tochter und ich habe die reizende Frau aus den Augen verloren. Hätte gerne noch mehr gehört.
Meist wurde ich in Kanada auf meine Taschen oder Jacken angesprochen, im Bus oder am Hafen. Vielleicht ein neutrales Thema, um ein Gespräch anzufangen, es funktionierte. Wir haben im Bus von der Fähre Vancouver einen hochgewachsenen interessanten 80jährigen gesehen mit einer auffällig schönen gewebten bunten Tasche. Meine Freundin sprach ihn mutig im Bus an, echt kanadisch halt. Die Tasche hatte er aus Peru und er wäre zigmal auf dem Machu Picchu gewesen. Zuletzt vor zwei Jahren, jetzt wäre es ihm doch zu anstrengend, obwohl er dauert in der Welt alleine unterwegs war. Meine Freundin träumte schon ihr Leben lang vom Machu Picchu und war überglücklich, mehr davon zu hören und am Ende wusste ich nicht, was oder wer ihr besser gefiel, die Tasche oder der Reisende.
Meine Tochter war 2008 öfters mal in Hostels u. a. in Vancouver bis San Francisco und San Diego, auch auf Vancouver Island. Eines Tages hatte sie ein Zweier-Zimmer und ahnte nicht, mit wem sie das Zimmer teilen würde. Sie checkte die Kleidung, die auf dem Bett lag. Es war eine 83jährige Australierin, die ein Jahr alleine durch die Welt reiste. Sie war kurz zuvor in Kroatien und wollte dann im Oktober weiter nach Alaska. Sie zeigte meiner Tochter die Public Library und dass dort kostenlos Internet wäre und meine Tochter schminkte die alte Lady und machte ihr Zöpfe oder sonst eine chice Frisur, die Lady war sehr tough. Die beiden hatte eine tolle Zeit im Hostel und tauschten ihre Geschichten aus und verstanden sich gut.
Tochter traf kurz davor auch auf der Fähre ein Mädchen, das aus Alaska kam. Sie war dort einige Monate alleine unterwegs mit Rucksack und wohnte nicht weit von uns hier in D. Die beiden freundeten sich auf der Fähre an und unternahmen einiges in Vancouver. Unvergeßliche Begegnungen. Hier gibt es einen regelmäßigen Stammtisch von den jungen Leuten aus der Vancouverzeit und wir haben immer wieder Besucher aus aller Welt, die meine Tochter unterwegs so kennengelernt hat, natürlich mit Gegeneinladungen nach Neuseeland, Australien, San Francisco, Irland, Italien, Mexico uvm. Das Reisen und unterwegs sein ist manchmal garnicht so kompliziert, wie es scheint, wenn man den richtigen Menschen begegnet und der Funke überspringt.
Manchmal braucht man garnicht so weit gehen und man trifft besondere Menschen, so wie die ältere Lady hier im Bus und hört Geschichten.