DPA Geldscheine: Auch wer keine hat, ist glücklich, meint die Autorin.Viele Amerikaner haben jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt. Aber warum eigentlich? Die kanadische Autorin Margaret Atwood ist davon überzeugt, dass ein schuldenreiches Leben spannend sein kann. Es hat den Reiz der Jagd – und man kann sich dabei so schön als Opfer inszenieren.
Ohne Erinnerung gibt es keine Schuld und keine Schulden. Anders gesagt, ohne eine Geschichte gibt es keine Schuld und keine Schulden: wie man in die Schulden hineingeraten ist, was man getan, gesagt und gedacht hat, als man darin steckte, und dann, wie man herausgekommen oder immer tiefer darin versunken, zum Schluss überschwemmt und vollkommen darin untergegangen ist.
Der Sprachgebrauch ist vielsagend: Wir geraten „in“ Schulden wie ins Gefängnis oder in einen Sumpf, fallen hinein wie in einen Brunnen oder auch ins Bett, und wir ziehen uns aus ihnen „heraus“, als träten wir ins Freie oder kletterten aus einem tiefen Loch. Wenn wir von Schulden „überschwemmt“ werden, haben wir vielleicht das Bild eines sinkenden Schiffs vor Augen, von Wellen, die unerbittlich über uns hinwegschwappen und uns in die Tiefe reißen, während wir um uns schlagen und nach Luft schnappen.
Das klingt dramatisch, nach reichlich körperlicher Aktivität: sich hineinstürzen, sich herausziehen oder -hangeln, um sich schlagen, ertrinken. Die sprachlichen Bilder sind allerdings weit von der finsteren Realität des wahren Handlungsverlaufs einer Schuldengeschichte entfernt. Denn da sitzt der Schuldner meist an einem Schreibtisch, jongliert mit Zahlen auf einem Bildschirm oder schichtet überfällige Rechnungen um, in der Hoffnung, dass sie verschwinden werden; er läuft hin und her und fragt sich, wie er sich um alles in der Welt aus diesem finanziellen Schlamassel wieder herauswinden soll.
Schulden sind in unserer Vorstellung ein gedanklicher oder geistiger Nicht-Ort wie die Hölle, die Christopher Marlowes Mephistopheles auf Fausts Frage beschreibt, warum er nicht in der Hölle, sondern leibhaftig mit Faust im selben Zimmer sei. „Nein, nein, dies ist die Hölle, und ich bin nicht draußen“, erwidert Mephistopheles. Denn er trägt die Hölle mit sich herum wie sein eigenes Mikroklima. Er ist darin, es ist im Grunde auch in ihm. Man ergänze das Wort „Hölle“ um „Schulden“, und siehe da, auch Schulden sind ein solch ortloser Ort. So betrachtet, bekommen Schulden – besonders Schuldenberge, die man unmöglich abtragen kann – etwas Kühnes und Erhabenes, etwas Interessantes. Sie sind nicht mehr bloß erbärmlich, sondern erwecken den Anschein tragischer Größe. Könnte es sein, dass manche Leute Schulden machen, weil es ihnen in ihrem ansonsten faden Leben einen Adrenalinschub verschafft, wie wenn sie mit dem Motorrad schneller als erlaubt über die Autobahn jagen? Wenn der Gerichtsvollzieher klingelt oder das Licht ausgeht, weil man die Stromrechnung nicht bezahlt hat, oder die Bank droht, die Hypothek einzufordern, dann kann man sich wenigstens nicht über Langeweile beklagen.
Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Ratten, denen man Spielzeug und Gefährten wegnimmt, sich lieber schmerzhafte Elektroschocks verpassen, als permanent Eintönigkeit zu ertragen. Ratten würden fast alles tun, um sich in der Ereignislosigkeit von Raum und Zeit Abwechslung zu verschaffen. Menschen auch: Wir mögen unsere Geschichtchen nicht nur, wir brauchen sie, und bis zu einem gewissen Grad sind wir unsere Geschichten. Unsere Lebensgeschichte ohne Geschichten ist kein Leben. Schulden können eine solche Lebensgeschichte ausmachen. Eric Berne führt in „Spiele der Erwachsenen“, seinem Bestseller über Transaktionsanalyse aus dem Jahr 1964, fünf „Lebensspiele“ an – Verhaltensmuster, denen ein Mensch unter Umständen während seines ganzen Lebens folgt. Sie sind zwar häufig destruktiv, jedoch mit verborgenen psychologischen Vorteilen oder Belohnungen verbunden, die die Spiele am Laufen halten.
Natürlich bedarf jedes Spiel mehr als eines Mitwirkenden; manche beteiligen sich bewusst daran, andere ahnen nichts davon und sind die Gelackmeierten. „Alkoholiker“, „Jetzt hab ich dich endlich, du Schweinehund“, „Mach mich fertig“ und „Sieh bloß, was du angerichtet hast“ nennt der Autor vier seiner Lebensspiele. Das fünfte heißt „Schuldner“. Berne meint, „Schuldner“ sei mehr als nur ein Spiel und könne sich zum Drehbuch für ein ganzes Leben entwickeln. Und wo in den tiefsten Tiefen von Afrika oder Neuguinea ein junger Mann auf Jahre hinaus zum Schuldner bei seiner Familie wird, die Unsummen für den Kauf seiner Braut ausgelegt hat, da verschuldet man sich in den Vereinigten Staaten oft beim Kauf eines Hauses; dann zwar nicht bei den Verwandten, sondern bei der Bank, aber die Tilgung der Hypotheken kann zum Lebenszweck werden. Ich erinnere mich an eine Zeit in meiner Kindheit, als man es chic fand, im Badezimmer eine gerahmte Petit-Point-Stickerei mit dem Spruch „Gott segne dieses verpfändete Haus“ aufzuhängen. Damals veranstalteten die Leute Partys, auf denen sie nach Abzahlung der letzten Hypothek die Urkunde feierlich auf dem Grill oder im Kamin verbrannten. Das Haus wird wieder „frei von Hypotheken“, wenn sie abgetragen sind. Der Ausdruck „frei werden“ gefällt mir hier sehr – auch ein Mensch, der aus dem Gefängnis kommt, wird frei.
Wer sich also beim Lebensspiel „Schuldner“ brav und nett an die Spielregeln hält, zahlt seine Hypotheken ab. Doch was, wenn er es nicht tut? Jedes Kind weiß: Wer sich nicht an die Spielregeln hält, schummelt. Es weiß aber auch, dass ehrlich nicht immer am längsten währt. Manchmal sind Schummler nämlich sehr erfolgreich, und zwar nicht nur auf dem Spielplatz. Es gibt also eine nicht nette, betrügerische Variante des Schuldnerspiels. „Versuch’s und kassiere!“ nennt Berne es, und das sagt alles. Wie bei den anderen Spielen in seinem Buch gewinnt der nicht nette Spieler immer etwas, einerlei, was passiert. Als Schuldner erwirbt er eine ganze Menge auf Kredit und zahlt dann nicht. Zu „Versuch’s und kassiere!“ braucht man, wie zu den übrigen berneschen unehrlichen Spielen der Erwachsenen, wenigstens zwei Teilnehmer, und der Kontrahent des Schuldners ist natürlich der Gläubiger. Wenn es dem zu viel wird und er aufgibt, also nicht kassiert, was ihm zusteht, kriegt der Schuldner etwas unentgeltlich. Gibt der Gläubiger seine Versuche zu kassieren aber nicht auf, wird das Spiel zu einer aufregenden Treibjagd, und macht er Ernst und greift zu verschärften Maßnahmen – zieht zum Beispiel vor Gericht –, wird der Schuldner wütend, weil er den Gläubiger habgierig und fies findet. Sich Dinge auf Kredit zu beschaffen, sie nicht zu bezahlen, der Reiz der Jagd, die Wut auf den Gläubiger und die Selbstinszenierung als Opfer – all das wirkt doch immer wieder elektrisierend und funktioniert im Verlauf des Schuldnerspiels ebenso wie in der Lebensgeschichte selbst.
Wie sagt der zerlumpte Landstreicher Wladimir in Becketts „Warten auf Godot“ über eine unangenehme Szene, deren Zeuge er gerade geworden ist? „Da vergeht einem die Zeit.“ Woraufhin sein Kumpel Estragon erwidert, die Zeit vergehe sowieso. Ja, sagt Wladimir, „aber nicht so schnell“. Was auch immer Schulden sein können, offenbar besitzen sie Unterhaltungswert, sogar für den Schuldner. Wie den Ratten mit ihren selbst zugefügten Elektroschocks ist es uns Menschen offenbar lieber, dass uns etwas Unangenehmes passiert als gar nichts.
Auszug aus dem in diesen Tagen erscheinenden Buch der kanadischen Autorin: „Payback. Schulden und die Schattenseite des Wohlstands“. Berlin Verlag
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